von Berhard Hampel, Würzburg
Per Aushang und Nachricht an alle
deutschen Familien wurde kundgetan, was Deutsche nicht mehr besitzen dürfen.
In der Turnhalle in der Freiheiter Schule sind alle Fotoapparate, Radioapparate
sowie alle Arten von Stiefeln, wie Reitstiefel, Uniformstiefel abzugeben. Es
wurden Hausdurchsuchungen angedroht. Außerdem ist es ab sofort allen Deutschen
verboten, den Wald und die Wiesen zu betreten. Ab 18 Uhr herrscht ein Ausgehverbot
für alle Deutschen! Besonders befremdlich war, daß auch unser Herr Pfarrer Tschöp
einen "Spravce" hatte. Der neue tschechische Pfarrherr verbot sofort
die deutsche Sprache in unserer Pfarrkirche. Eine ganz besonders christliche
Tat!
So etwa im August 1945 kamen die Eflers in Haus. Wir mußten die unteren Räume
verlassen. Eflers bezogen unsere große Wohnküche und das kleine Zimmer zwischen
der Küche und dem Ladengeschäft. Sie nahmen uns auch das Bad weg. Wir merkten
ganz schnell, daß der wirkliche "Befehlshaber" der Eflers nicht der
Franz war, sondern Pani Eflerova. Frau Efler wurde nach und nach eine richtige
"böse Frau". Es dauerte gar nicht lange, da ließ sie uns ausrichten,
wir hätten im Stall nichts mehr zu suchen. Wir wohnten im ersten Stock und hatten
die drei Räume über unserem Geschäft und die kleine Wohnung von Omi. Das kleine
Zimmer von den Onkels, die in Böhmisch Leipa wohnten und im Haus noch einige
Rechte hatten, wollte ich haben, aber die Eflers nahmen uns auch dieses Zimmer
weg.
Im Spätsommer 1945 kam Papa nach
Hause. Mit zwei Krücken und einem kleinen Rucksack für die wenigen Habseligkeiten
auf dem Rücken. Er erzählte mir viel später, daß er aus Scham nicht die Hauptstraße
herauf gegangen ist, um sein Haus nicht von vorne betreten zu müssen, sondern
daß er am Wetterhäuschen im Bogen über die "kleine Seite", an der
Kirche vorbei das Haus von hinten betreten hat. Ich war, wie immer, irgendwo
mit Kindern unterwegs. Da rief mir Frau Zieris, eine Nachbarin, von weitem zu,
ich solle doch ganz schnell nach Hause gehen. Es ist was sehr Schönes passiert!
Stell dir vor, soeben ist dein Papa aus dem Krieg nach Hause gekommen! Freu
dich und lauf schnell!
Mama war glücklich! Ganz anders Papa. Er konnte nicht mehr lachen. Ich merkte
auch ganz schnell, daß ich nicht mehr der "älteste Mann" in der Familie
war. Schon nach einigen Stunden wurde ich von Papa wegen Kleinigkeiten mächtig
angepfiffen. Papa hatte ja nur ein Bein, das leere Hosenbein war nach oben geschlagen
und mit einer Sicherheitsnadel festgesteckt. Er war also auf die Krücken angewiesen.
Das feste und gute Laufen hatte er sich schon angewöhnt. Er haderte mit seinem
Schicksal. Mama und die Familien Seidel, Etrich, Tippelt und Fortelka versuchten
zu trösten, aber es gelang nicht. Papa war ein gebrochener Mann. Das verursachte
nicht zuletzt die Dominanz des Tschechischen. Obwohl Papa die tschechische Sprache
und folglich auch die tschechische Seele noch am ehesten verstand, was bei uns
allen eher nicht der Fall war.
Nachdem die Eflers nun im Haus wohnten, war auch Franz der Chef in der Werkstatt,
aber die Zügel hatte Pani Eflerova in der Hand. Franz beschäftigte meinen Vater
und wenn er am Abend das Werkzeug mit in die Wohnung nahm, um unsere Schuhe
zu richten, machte ihm Franz eine fürchterliche Szene, was Papa einfiele, das
Werkzeug mitzunehmen, das gehöre jetzt ihm! Papa antwortete ihm auf tschechisch,
das war sicher auch nicht so freundlich. Was sollten wir tun. Die Eltern nahmen
diese Behandlung apathisch hin, so daß mir als Zehnjährigem der Kamm schwoll,
aber was sollte man tun, wir hatten die "Arschkarte"!
Im oberen Vorhaus stand ein großer Bücherschrank, sehr stabil mit geschnitzten Füßen, Glastüren, die innen Vorhänge hatten. Der Schrank war voller Bücher, noch von Großvater Bernard. Diesen Schrank hatte sich Frau Efler schnell ausgeschaut! Frau Efler ließ uns über Franz ausrichten, daß wir den Schrank sowieso nicht mehr brauchen, denn wir würden sowieso bald die "große Reise" antreten. Sie ließ die Bücher abholen und zur Firma Weißhuhn (Papierfabrik) zur Vernichtung bringen. Erniedrigung pur! Eflers hatten ja fast keine Möbel, als sie ins Haus zogen, der junge Efler konnte diesen Schrank im Onkelzimmer sicherlich sehr gut gebrauchen. Das Drama nahm seinen Lauf!
Beim plötzlich tschechischen Renner
am Narodny Vybor wurde immer nachgefragt, wenn die jeweilige Familie weg muß.
Wie wir erst lange nach unserer Vertreibung, also schon in Thüringen, erfuhren,
hatten die Siegermächte USA, England und Frankreich und sogar die Sowjetunion
massiv bei der Benesch-Regierung Protest eingelegt, daß die Menschenmassen durch
die wilde und brutale Vertreibung der Tschechen nicht so schnell untergebracht
werden konnten. Die "Aussiedlung" der Deutschen müsse geordnet vor
sich gehen! Nach diesem Einspruch trat für die letzten Monate des Jahres 1945
eine gewisse Ruhe ein.
Erst Anfang 1946 hatten die "neuen Herren" wohl einigermaßen geordnete
Pläne für unsere Vertreibung. Die "Biemscha" (Dialekt) nannten die
Vertreibung Odsun. Es wurden dann die Eisenbahntransporte zusammengestellt.
Für den nördlichen Landkreis Trautenau war eine stillgelegte Flachsgarnspinnerei
in Unterjungbuch, ganz in der Nähe des Bahnhofs Trübenwasser, der Sammelort,
wo so lange Deutsche "gesammelt" wurden, bis wieder ein Transport
"gefüllt" werden konnte.
Im Mai 1946 bekam die Familie Hampel offiziell mitgeteilt, daß wir Mitte Juni
mit einem Transport unsere Heimat, unser schönes Riesengebirge, verlassen müssen.
Mama hatte gepackt, wieder ausgepackt und gewogen. Das ging schon lange so.
1946 durften Deutsche pro Kopf 50 Kilo Habe mitnehmen. Mama hatte das Doppelte
und mehr eingepackt. Wir hatten das gute Geschirr, Emailletöpfe, die zu Hause
nicht benutzt wurden, weil es zu schade war oder weil sie zu neu waren, Glas
und Porzellan, Bestecke und und und in zwei Holztruhen untergebracht. Kleidung
und Wäsche war in Jutesäcken, auch unsere Federbetten, in denen sich etliche
Reichsmark-Bündel befanden, große Scheine, aber es war ja nicht mehr allzu viel
wert. Mama schärfte unseren Blick darauf, daß wir von den Tschechen bei der
Kontrolle ausgefragt werden (Kinder). "Wenn sie fragen, (die Tschechen)
wo die Eltern das Gold und das Geld und die Uhren versteckt haben, so antwortet
ihr, das haben uns schon die Russen weggenommen!“ Es sollte dann auch so kommen
und wir haben auch genauso geantwortet, wie es uns Mama aufgetragen hat!
Ab sofort mußte ich in einer größeren bunten Einkaufstasche geschliffenes Glas,
Weingläser, Glasschüsseln, eben Geschirr für Festtage, in die Aupa tragen und
auf den runden Flußsteinen zerschlagen. Wir wollten nicht, daß unser gutes Geschirr
auch noch die Eflers bekommen.
Mit Omi waren wir sechs Personen, will heißen, wir dürfen 300 Kilo Gepäck mitnehmen.
Was ist das, wenn das Haus voll ist! Meine Eltern waren keine Armen. Aber Mama
war sehr weitsichtig. Sie wußte genau, was wir künftig brauchen würden und was
nicht. Keiner von uns ahnte, wie das uns bevorstehende Drama ablaufen wird,
denn aus dem Lager war ja bis dato noch niemand zurückgekommen, der irgendetwas
berichtet hätte. Der 16. Juni 1946 war der Tag, den man in seinem Leben nicht
vergißt! Bis 11 Uhr hatten die Freiheiter, die "dran" waren, am Ringplatz
zu sein. Außer uns war auch die Familie Tippelt aus unserem Haus dabei. Unsere
Gepäckstücke fuhr ich mit Norbert Tippelt auf den Ringplatz. In unserer Scheune
standen noch die "Rouper" und der Tischwagen. Mit dem Tisch wagen,
so meinten wir, haben wir es leichter. Wir mußten öfters fahren, denn für zwei
Familien war es doch allerhand Gepäck.
Der 16. Juni war ein sehr heißer Tag. Das war für uns Kinder sehr schlecht,
denn wir drei Jungen mußten sehr viel anziehen, doppelt und dreifach übereinander,
denn was wir am Körper trugen, wurde schon nicht gewogen! Papa hatte noch einen
"Spezialauftrag" für mich. Ich mußte alle Schränke und Türen abschließen
und die Schlüssel einstecken. "Wenn wir über die Aupabrücke gehen",
so sagte er, "wirfst du alle Schlüssel ins Wasser!" Das habe ich auch
nicht vergessen! Es dauerte ziemlich lange, bis Pferdegespanne mit leeren großen
Leiter- oder Kastenwägen kamen. Es ging schon auf Mittag zu, als einige Fuhrwerke
aus Richtung Marschendorf um die Ecke bogen. Das Aufladen der Habe der Freiheiter
dauerte seine Zeit und war auch sehr anstrengend. Noch waren wir Eigentümer
von dem Wenigen, was wir eingepackt hatten. Aber wie lange noch?
Papa bekam neben dem Kutscher einen
Sitzplatz, Omi hatte hinten am Wagen einen Sitzplatz und wir Kinder durften
ganz oben auf das Gepäck. Alle Erwachsenen liefen hinter dem Fuhrwerk her. Für
unsere Eltern und für Omi war es der letzte Gang durch unser "Bergstädtchen
unter dem Güldenen Rehorn", wir drei Brüder sollten wiederkommen, nach
langer, langer Zeit. Die Alten hatten Tränen in den Augen, wir Kinder waren
eher gespannt auf das Neue, auf die Zukunft. Ich merkte erst nach Jahren, was
ich verloren hatte!
Die Pferde zogen an, die Wagenschlange setzte sich in Bewegung. Nach jedem Wagen
liefen die Menschen, die auf dem Gefährt ihren übrig gebliebenen Besitz hatten.
Wir Kinder, angezogen wie im Winter, saßen oben auf. An unserem Haus vorbeifahrend,
suchte ich die Fenster mit meinen Blicken ab, konnte aber niemanden an den Fenstern
sehen. Sicherlich waren die Eflers mit unseren Tür- und Schrankschlössern beschäftigt!
Auf der Aupabrücke erinnerte ich an meinen Auftrag und warf alle Schlüssel in
hohem Bogen in die Aupa. Ein letzter Blick zum Friedhof zu unseren Toten. Fast
alles haben wir lassen müssen. Haus, Land, Wald, Vieh, Einrichtung, alles, alles.
Uns Kindern war das natürlich in keiner Weise bewußt. Erstens schauten wir in
die Zukunft und zweitens waren wir neugierig, was da auf uns zukommt. Das Leid
und die Trauer unserer Eltern und der anderen älteren Freiheiter konnten wir
nicht nachvollziehen. Für uns war das irgendwie spannend!
Nach etwa 45 Minuten bog die Wagenkolonne
in den Fabrikhof der Spinnerei Faltis ein. Hinter uns wurde ein großes verrostetes
Tor geschlossen. Die Habe der Freiheiter wurde abgeladen. Über mehrere große
Tische wurden die ausgesuchten Packen, ausgesucht von Tschechen in Uniform,
wohl Zöllner, über den Tisch gezogen und mußten von den Menschen, denen sie
gehörten, ausgepackt werden. Was den Herren gefiel, wurde quasi "beschlagnahmt".
Die schweren Arbeiten wurden von deutschen Männern ausgeführt. Am Ende, wenn
der Besitz einer Familie über die Tische gewandert war, wurden prompt wir Kinder
nach den Wertsachen befragt. Aber darauf hatten wir schon gewartet und wir haben
dann auch die "richtige Antwort" gegeben. Am Ende der Tische war eine
große Waage, wo alles gewogen wurde. Die großen Holztruhen wurden gleich beschlagnahmt.
Wir hatten keinen einzigen Topf mehr. Bei den deutschen Gehilfen war auch Franz
Berger und Herr Just, Schlosser in Freiheit. Die haben das eine oder andere
Stück am Zoll und an der Waage vorbeigeschleust, wir waren trotzdem im Glück!
Die Jutesäcke mit den Betten, in deren Federn sich das Geld befand, hatten die
Waage passiert!
In den großen Fabrikhallen waren Doppelstockbetten, jeder hatte ein Bett, auch
wir Kinder. Der Strohsack, der in meinem Bett lag, roch nicht besonders gut.
Aber ich hatte nur diesen einen! Die Eltern schauten mit Gleichmut in die Welt,
was sollten Erwachsene auch schon anderes machen. Aber der setzte sich über
die folgenden Jahre fort. Zu meinem Leidwesen! Wir Buben durften hinauf auf
die oberen Liegen, aber das wichtigste war, wir durften endlich die vielfache
Kleidung ausziehen. Alle schnauften erst einmal durch. Die erste Schranke war
durchschritten. Es gab an diesem frühen Abend aber auch etwas zu essen. Es gab
eine spärliche Suppe, ein dünner Eintopf. Undefinierbaren Tee gab es gegen den
Durst. Das fiel aber vorerst gar nicht so ins Gewicht, denn die meisten Leute
hatten noch so eine Art "Reiseproviant", der natürlich bei dieser
Versorgung rapide abnahm. Meine Eltern hatten drei hungrige Mäuler zu stopfen,
da hält Mitgebrachtes nicht lange. Wie lange wir in dieser Fabrikhalle auf unsere
"große Reise" warten mußten, das wußte ja zunächst niemand. Es dauerte
eine Woche. Das Mitgebrachte war auch bei den Menschen, die sich besser versorgt
hatten als wir, verbraucht. Es gab Freiheiter in den Nachbarbetten, die hatten
Gebackenes oder Brotlaibe. Aber das hielt nicht lange. Wir drei Jungen hatten
sowieso immer Hunger, denn die Lagerverpflegung war selbst für Notzeiten ärmlich,
ja spartanisch! Aber verhungern brauchten wir nicht!
Die alte Spinnerei bot für uns Kinder viel Raum, den es zu erforschen galt.
Die Stockwerke waren bei weitem nicht alle genutzt. In einer der oberen Etagen
waren noch einige für uns undefinierbare Sachen gelagert, aber das interessierte
uns weniger. Die Neugier war sehr stark. Wir sahen durch die Fenster auf die
gepflasterte Straße vor der Spinnerei, die von Trautenau nach Freiheit führte.
Die Faltis-Weberei war rundum bewacht. Ich weiß nicht, war es Polizei oder Militär.
Das große Fabriktor war geschlossen. An einem der Tage des Wartens ereignete
sich eine Begebenheit, die uns erschreckte. Ein älterer Herr, er trug einen
Anzug mit Hemd und Krawatte und einen schönen Hut. Die Ereignisse der letzten
Tage waren für ihn sicherlich zu viel und er war wohl etwas wirr im Kopf. Er
ging zielstrebig auf das verschlossene Fabriktor zu und wollte es öffnen. Er
rief: "Ich will hejm!" Er fing mit dem Wachpersonal Streit an, ließ
sich nicht ab weisen und wollte das Tor entriegeln und gehen. Zwei Uniformierte
widmeten sich ihm recht handfest und es kam zu einem Handgemenge, in dem der
alte Mann natürlich den Kürzeren zog. Aber er war wohl etwas kräftig und die
Uniformierten wollten kein Risiko eingehen. Einer von ihnen schoß in die Luft.
Alle Umherstehenden erschraken sehr! Dann rannten zwei Männer zu der Gruppe,
nahmen den Mann in ihre Mitte und führten ihn weg. Er hatte noch nicht begriffen,
dass er nicht einfach wieder "hejm" kann. Eigentlich ein richtiges
Drama. Das, was da vor sich ging, konnten nicht alle Menschen verstehen. Vor
allem die älteren Menschen hatten mit der Ungeheuerlichkeit so ihre Probleme.
Beim Herumstreunen im Gebäude kam ich mit einigen Gleichaltrigen in einen Keller.
Dort lag Gerümpel, irgendwelche Materialien in Säcken verpackt und Maschinenteile
herum. Wir Kinder, so etwa fünf oder sechs, fanden eine Tür, nach deren Öffnen
und Durchschreiten wir plötzlich auf der Straße Freiheit Trautenau standen.
Wir Streuner dachten, wir haben die Lösung gefunden wir wissen den Weg
zurück. Wieder bei den Eltern, berichteten wir freudig, daß wir den Weg zurück
"aus der Gefangenschaft" gefunden haben und wir gleich wieder nach
Hause gehen können. Papa lächelte gequält, sah mich an und sagte zu mir: "Hardi,
das geht nicht, nie mehr!" Ich verstand nicht, und es sollte tatsächlich
mehr als 25 Jahre dauern für mich! Papa sah seine geliebte Heimat nie
mehr wieder!
Etwa nach einer guten Woche gingen durch die Riesengebirgler in der Faltis-Spinnerei
Parolen, es ginge bald los ... Aber etwas Genaueres wußte niemand. Etwas später
wurde es offiziell. In zwei Tagen geht der Transport ab Trübenwasser. Von der
Faltis-Spinnerei war es ja zum Bahnhof Trübenwasser nicht allzu weit. Dort sind
wir eigentlich nur durchgefahren wenn das Ziel unsere Kreisstadt Trautenau war.
Am Morgen nach dem "Genuß" der Kaffee-Schlirre und einem Kanten Brot
ging es auf den Bahnhof. Der letzte Weg aus der Heimat wurde angetreten. Die
Erwachsenen waren tieftraurig, wir Kinder ganz und gar nicht! Am Bahnhof stand
ein sehr langer Zug, natürlich Viehwagen. Als wir unseren Waggon zugeteilt bekommen
hatten, habe ich sie gezählt. Es waren 45 Waggons, wir hatten die Nr. 32, leicht
zu merken, denn das war unsere Hausnummer in Freiheit, sie ist es heute noch!
Jeder Viehwagen war mit etwa 30 Personen belegt. Das Gepäck, unsere Habe, war
rechts und links schräg hoch gestapelt. Wir Kinder wurden nach oben und hinten
verfrachtet, die Erwachsenen saßen unten auf Gepäckstücken. In der Mitte am
Boden des Waggons standen drei Eimer mit etwas Wasser, in dem sich Desinfektionsmittel
befand, das "laut" roch und folglich die Nase ziemlich beleidigte!
Die Eimer waren für die Notdurft der Menschen gedacht. Sie wurden aber zunächst
überhaupt nicht genutzt, noch war Scham vorhanden!
Irgendwann am späten Vormittag Anfang Juni 1946 setzte sich der Transport nach
dem Ort "Unbekannt" in Bewegung. Erst ganz langsam, der Zug brauchte
lange, bis er in Fahrt kam. Die Fahrt ging zunächst in Richtung Trautenau und
gleich weiter, große Richtung Prag. Die Generationen im Zug hatten sicherlich
ganz verschiedene Gefühle! Bei den Erwachsenen war wohl Trauer und Wehmut vorherrschend,
bei uns Kindern eher Spannung auf das Kommende und wir brauchten uns nicht mehr
von tschechischen Kindern die Worte "Germansky Swinja" (deutsches
Schwein) an den Kopf werfen lassen.
Immer nach längeren Fahrtphasen hielt der Zug, aber nicht in Bahnhöfen, sondern
an Punkten auf freier Strecke, an denen Latrinen errichtet waren. Wenn dann
nach dem Halt die Menschen zu den provisorisch errichteten Latrinen stürmten,
liefen die Sokoln (tschechische Jugendorganisation) mit Gewehren wie die Hütehunde
um die Menschen und paßten auf, daß nur keiner flüchtet. Es war vor allem für
die Frauen sehr deprimierend. Die sogenannten "Wachmannschaften" nahmen
da überhaupt keine Rücksicht. Uns Kindern und wohl auch den Männern machte das
weniger aus.
Durch die offenen Schiebetüren beiderseits des Waggons, die durch einen Strick
etwa in Bauchhöhe wegen den Kindern gesichert waren, konnte man sehen, wohin
die Reise ging. Es gab immer Kundige, die zu dieser Zeit schon weit gereist
waren. Plötzlich sagte in unserem Viehwagen ein Mann, das ist Melnik. Man sah
viele Ruinen. Melnik, eine Industriestadt in der Gegend von Prag, war durch
Luftangriffe ziemlich zerstört. Dort hielt der Transport wieder, im Bahnhofsgebiet
gab es wieder Latrinen "im Angebot", die natürlich freudig genutzt
wurden!
Von Melnik bei Prag änderte der Transport die Richtung! Es gab sofort Menschen
im Waggon, die das wahmahmen. Das verbreitete sich wie ein Lauffeuer, wir fahren
nicht nach Westen in die amerikanische, sondern nach Norden in die russische
Besatzungszone! Die Russen hatten wir ja schon kennen gelernt in Freiheit!
Unter den Riesengebirglern machte sich tiefe Niedergeschlagenheit breit. Die
Hoffnung auf den Westen war mit einem Schlag futsch. Diese Gefühle hatten wir
Kinder nicht!
Am zweiten oder dritten Tag waren unsere Bewacher in den Bremserhäuschen auffällig
nervös. Das bedeutete, daß der Transport sich der deutschen Grenze näherte.
Es dauerte auch gar nicht lange, da verlangsamte der Transport seine Geschwindigkeit
deutlich. Es war früher Nachmittag. Unsere Bewacher, die "Hirtenhunde",
sprangen ab und die Menschen jubelten und warfen ihre weißen Armbinden mit dem
schwarzen N aus den Viehwagen. Endlich in Freiheit! Bald sollte sich herausstellen,
daß es eine etwas zweitrangige Freiheit war.
Nach längerer Fahrzeit durch Wald und Feld, vorbei an kleinen Dörfern, fuhr
der Transport langsam in einen Bahnhof ein. Auf weißem Grund stand in schwarzen
Lettern: Plauen/Vogtland. Für uns eigentlich fremd, den Ort hatte ich noch nie
gehört, aber es klang verständlich und deutsch! Da waren wir also! Eigentlich
daheim, wenn es auch nicht zu Hause war. Es stand uns eine sehr schwere Zeit
bevor, die wiederum von uns Kindern leichter bewältigt wurde als von der älteren
Generation. Aber sie wurde bewältigt!
Rotkreuzschwestern tauchten auf. Sie kümmerten sich um Marode und Kranke und
schenkten heißen Tee aus. Die Menschen waren erleichtert. Sie durften wieder
in ihrer Muttersprache laut reden. Wir waren wieder Deutsche, nicht Nemci! Über
den Lautsprecher wurde uns mitgeteilt, daß nach längerer Pause die Menschen
dieses Transports nach Sonneberg in Thüringen Weiterreisen werden in ein Quaratänelager
und dort eine gewisse Zeit bleiben müssen. Die bitteren Jahre begannen … -
Das ist die Geschichte eines Teiles der Freiheiter Riesengebirgler, die es nach der gemeinen Vertreibung im wahrsten Sinn des Wortes über den halben Erdball verteilt hat. Sie kommen zu unseren jährlichen Treffen in Würzburg nicht nur aus allen Teilen Deutschlands, sondern aus vielen europäischen Ländern, aus den USA, Kanada, Südamerika. Sie müssen sich einen gewissen Wohlstand erarbeitet haben, sonst könnten sie die jährliche Reise über den "großen Teich" nicht antreten. Alle haben neben den ganzen Alltagssorgen vor allem eines im Kopf: die Liebe zur Heimat, die vertraute Sprache, den Dialekt, die alten Freunde und die verbindende gemeinsame Erinnerung. Wie lange noch?
Zu verdanken haben wir dieses Drama einem Ableger des Satans aus Braunau/Inn. In der Folge aber auch der tschechischen Obrigkeit (vor allem Herrn Benesch und seinen Dekreten), die 1945 unser Leid und die Umstände gnadenlos ausgenutzt hat! Alte, Frauen und Kinder zu verjagen und zu bestehlen ist keine Kunst, sondern das war schamlos und schmutzig! Diese Schuld bleibt immer bestehen, sie wird nicht vergessen. Niemals ...!