von Bernhard Hampel, früher Freiheit
In den Kriegsjahren, so etwa 1943,
war der Hampel-Schuster nordöstlich von Trautenau weit und breit als Schuhgeschäft
bekannt, das neben Reparaturen auch neues Schuhwerk anbot, wenn auch 1943 nur
auf Bezugschein. Das bewirkte, dass unser Laden immer voll Menschen war. Aber
das war ja gut für uns.
Eine Frau aus der Gegend der Mohorn-Mühle holte an einem Wochentag ihre reparierten
Schuhe ab und sprach bei meiner Mutter eine sehr interessante Einladung aus.
"Wenn Sie Ende September oder Anfang Oktober mal Zeit haben, da kommen
Sie über das Wochenende zu uns, da ist bei uns die Hirschbrunft, das ist für
Sie sicherlich sehr interessant!" Das ganze sprach die Frau natürlich in
"paurisch", aber meine Mutter, im Dialekt nicht so sonderlich bewandert,
verstand das schon und war eigentlich gleich recht begeistert. Ich war bei diesem
Gespräch zugegen und wusste gleich, da bin ich dabei!
Papa war schon im Krieg und Mama hatte alles auf ihren Schultern. Aber an einem
Samstagmittag ging es mit dem Bus vom Bahnhof Freiheit in Richtung Grenzbauden.
Die Omi hatte die "Wochenendaufsicht" übernommen und hat das
Haus und meine Brüder beaufsichtigt, denn für diesen Ausflug waren
sie noch zu klein. Außerdem war ja die Edith da, ein "Pflichtjahrmädchen",
die damals in kinderreichen Familien üblich waren. Edith stammte aus Oberjungbuch.
Mit dem Bus ging es ins Gebirge. An der Mohorn-Mühle war die Fahrt schon
zu Ende. Dort ist auch heute noch, im Jahre 2013, eine Haltestelle. Von dort
ging es auf Schusters Rappen tüchtig bergauf. Mama war ein leidenschaftlicher
Wanderer und ich war belastbar! So etwa zwischen anderthalb und zwei Stunden
dauert es, es war warm und deshalb ziemlich schweißtreibend! Ich war erstaunt,
von wie weit unsere Kundschaft den Weg zu uns fand. Meine Mutter mußte
diese Gegend von früheren Wanderungen her kennen. Nach einiger Zeit grüßte
uns über einen Bergrücken die Schneekoppe, "die aale Gake"!
Es dauerte dann auch nicht mehr lange und wir sahen in einiger Entfernung zwei
kleinere Riesengebirgshäuschen, so weiß-braun, auf einer Lichtung.
Möglicherweise hießen unsere Gastgeber Mitlöhner. Wir wurden
in der Tür empfangen, justament von der Frau, die die Schuhe bei uns abgeholt
und die Einladung ausgesprochen hat. Außer ihr war noch eine ältere
Frau anwesend, sie hatte schneeweißes Haar, das zu einem Knoten gebunden
war. Sie strickte, das letzte Tageslicht nutzend, am Fenster. In der Ecke des
großen Raumes stand der große, obligatorische Kachelofen. Die Unterhaltung
fand im Dialekt, also in paurisch, statt. Ihr zu folgen war für mich kein
Problem, denn mein Vater und Omi unterhielten sich so. Meine Mutter weniger.
Am späten Nachmittag ging die Frau mit dem weißen Haarknoten mit
uns vors Haus, sie hatte den Schirm einer Petroleumlampe in der Hand. "Jeze
war mo amol sahn, ob se kumma, wenn ich ruffa tu"! Sie setzte den Schirm
an den Mund und imitierte so ein Röhren. Für mich damals ganz erschreckende
Töne, aber heute kennt man sie aus Natursendungen. Nach einiger Zeit wiederholte
sie diese Töne. Beim dritten Mal bekam sie schon eine Antwort, erst spärlich,
dann kräftiger und immer näher. Die Frau sagte: "Jeze miß
mo eis Haus giehn, jeze wird´s ernst!"
Es dauerte gar nicht lange und das
Röhren der Hirsche war ums Haus. Frau Mitlöhner zog die Vorhänge
etwas zu. Mir war ein wenig mulmig zumute. Das war alles sehr neu! Getarnt durch
die Vorhänge sahen wir dem für uns doch recht besonderen Naturereignis
zu. Etwas entfernt waren auch einige Rehe zu sehen. Die Nähe der zwei Häuschen
störte die Tiere offensichtlich nicht. Die "Wüstenschiffe"
hielten sich eine ganze Weile in unserem Blickfeld auf. Aber nachdem die Lockrufe
von Frau Mitlöhner ausblieben, zogen sie langsam weiter. Wir waren von
diesem Naturschauspiel begeistert!
Es folgte ein spartanisches Gebirgsabendessen. Es gab eine dicke Milchsuppe,
in der sehr viele Pilze rumschwammen, dazu ein Stück hartes Brot. Nach
langem "Tischkerieren", für einen Achtjährigen uninteressant,
wurden wir zum Schlafen von Frau Mitlöhner mit einer Petroleumlampe unters
Dach gebracht. Das Nachtlager, das ich mit Mama teilte, war kein Himmelbett
und es war sehr hart, aber die Strapazen des Tages und dazu noch das seltene
Erlebnis, ganz in der Nähe von Hirschen, von sehr großen Tieren,
gewesen zu sein, verlangten ihren Tribut!
Am nächsten Morgen, nachdem wir die steile Stiege wieder "rundergekrocha"
waren, gab es zum Frühstück heiße Ziegenmilch und Butterbrot.
Köstlich! Und das im vierten Kriegsjahr!
Im Lauf des Vormittags hatten sich die drei Frauen noch sehr viel zu erzählen.
Aber gegen Mittag ging es wieder ins Tal an die Mohorn-Mühle. Wir mussten
noch eine ganze Weile warten, bis ein großer grauer Bus kam, mit dem wir
wieder nach Freiheit fahren wollten. Wollten! Die Tür ging auf, es stiegen
einige Leute aus und ein und als Mama und ich einsteigen wollten, schnarrte
uns eine Stimme an, die preußisch-berlinerisch klang: "Haben Sie
eine Bescheinigung? Mit mir können Sie nur fahren, wenn Sie einer kriegswichtigen
Arbeit nachgehen!" Mama verschlug es die Sprache und ich hatte nichts zu
sagen. Der Bus war fast leer. Mama schlug die Tür fest zu, der Busfahrer
gab Gas und fuhr ohne uns nach Freiheit.
Meine Enttäuschung war nicht zu beschreiben. Ich fing an zu heulen (flötschen).
Mama fauchte mich an und sagte: "Hör auf, ein Junge weint nicht! Komm,
das macht doch uns nichts aus, jetzt werden wir aber tüchtig `retourieren´,
dann sind wir ganz schnell in Freiheit!" Den Busfahrer bedachte ich noch
mit sehr deftigen Schimpfworten, die hier nicht wiedergegeben werden können!
Bald war die Trauer vergessen. Die Nacht schlief ich tief und fest, evtl. mit
einem Hirsch-Traum! Von Mitlöhners bis Freiheit waren es etwa zwischen
15 und 20 Kilometer. Die Erinnerung bleibt!