von Berhard Hampel, Würzburg
Die Begeisterung über die vermeintliche
Freiheit legte sich sehr schnell. Nachdem Deutschland die CSR besetzt hatte,
war vor allem bei uns im Geschäft wieder alles anders. Plötzlich verkauften
wir wieder Schuhe! Das war ein ganz neues Gefühl. Mama stand den ganzen Tag
über im Geschäft. Wir waren eigentlich schon deswegen recht froh. Bata war nicht
mehr, wir bezogen "Trommler"-Schuhe von einer Schuhfabrik in Warnsdorf.
Sie zeichneten sich (Kinderschuhe) durch drei Einprägungen (Querstriche) auf
der Schuhkappe aus.
Die Deutschen führten sich auf! Sie überfielen die Polen und gewannen den Feldzug
schnell. Mit Stalin hatte der Braunauer ein Abkommen, das zu Lasten Polens ging.
Zwei Länder teilten sich das dritte. Dann überfielen wir die Franzosen. Engländer
und Franzosen hatten den Tschechen Hilfe versprochen, aber der Braunauer hat
wohl, sehr hochgerüstet, alle dermaßen beeindruckt, dass sie vergaßen, was sie
den Tschechen versprochen hatten. Sie kamen auf das Festland nach Frankreich
und wurden bei Dünkirchen vernichtend geschlagen. Die englischen Soldaten wurden
von tausenden kleinen Privatbooten über den Kanal geholt. Die Masse des Kriegsmaterials
fiel in deutsche Hände! Die Tschechen wurden von den Franzosen und Engländern
im Stich gelassen.
Trotzdem schwante ganz langsam vielen von uns, dass der Braunauer dem Größenwahn
verfallen war. Es ging die Angst um, er könnte so weitermachen. Weil England
den Franzosen geholfen hatte, wurden die englischen Städte durch Luftangriffe
tyrannisiert. Die Propaganda schoss sich ganz langsam auf die Sowjetunion ein,
auf den dort herrschenden Kommunismus, in der deutschen Propagandasprache den
Bolschewismus. Diese beiden totalitären Systeme hatten durchaus viele Gemeinsamkeiten.
Der Mensch galt nichts, das System und der "Ober" alles.
Als wir im September 1941 im Radio hörten, dass wir von Ostpreußen aus das riesige
Land Russland überfallen haben, lachte keiner mehr. Herr Tippelt, er war Uhrmacher
und Juwelier in unserem Haus, kam ganz aufgeregt zu meinen Eltern und sagte,
Hausherr, das ist unser Ende, das wird nicht gut gehen!
Und in der Tat, die Menschen waren wie gelähmt. Die Begeisterung für den Braunauer
ließ stetig nach. Begeistert waren nur noch einige von diesem System. Die jungen
Männer, ein Jahrgang nach dem anderen, wurden eingezogen und es dauerte gar
nicht lange, da gab es die ersten Toten zu beklagen. Tendenz steigend.
In unserer Werkstatt arbeitete Franz Illner, wohnhaft am Aupa-Wehr. Er wurde
ganz schnell Soldat und es dauerte nicht einmal drei Monate, da kam die Todesnachricht.
Er fiel auf dem Vormarsch in Russland. Weil ein deutscher Schumachergeselle
nicht zu bekommen war, bekam Papa einen Tschechen namens Frantischek Efler aus
der Gegend von Nachod. Er bezog eine ausgebaute Bodenkammer, eingerichtet mit
einem Bett, einem Schrank, einem Tisch und einer Kommode. Er fuhr am Wochenende
nach Hause zu seiner Familie (Frau und Sohn). Am Montag früh war er wieder da.
In einer Kriegswirtschaft war alles bewirtschaftet und der Krieg fraß allmählich
alles auf. Schuhe gab es bald nur noch auf Bezugsschein und Franz schaffte die
vermehrt anfallenden Reparaturen nicht mehr. Es wurden alle Wochen Schuhe von
uns in eine Schuhfabrik nach Nachod geschickt. Transportiert wurden sie in Säcken
von einem Frachtunternehmen namens Richter bei der Marschendorfer Schule. Mit
Fortschreiten des Krieges schlich sich langsam der Mangel auf vielen Gebieten
ein. Der Krieg fraß langsam alles auf, folglich wurde die Stimmung schlechter
und schlechter. Die jungen Burschen, die sogar ich, wenigstens zum Teil, kannte,
starben in Russland. Die Stimmung war sehr gedrückt. Gegenüber unserer Wiese
neben dem Freiheiter Friedhof wohnte eine Familie Illner. Sie hatte einen Sohn,
ich glaube, er hieß Gerhard. Auch von ihm kam ganz schnell die Todesnachricht.
Es hieß im offiziellen Jargon "er sei am Feld der Ehre für Führer, Volk
und Vaterland" gestorben. Frau Illner schrie vor Schmerz so laut, dass
man es unten im Städtchen hören konnte. Ähnlich war es auch bei einer Frau namens
Lahmer, die im ersten Häuschen von Alt-Freiheit nach der Richter-Drogerie wohnte,
heute leider nicht mehr vorhanden. Frau Lahmer schrie zwei Tage lang und war
nicht mehr zu beruhigen. Damals gab es noch keine Beruhigungsspritze für Gesunde.
Ich war Ministrant und folglich war ich bei den jeweils stattfindenden Totenmessen
dabei. Es wurde viel geweint. Vom Café Illner am Ringplatz kam ebenfalls nach
kürzester Zeit die Todesnachricht. Der Sohn war die Hoffnung der Familie Illner.
Hans Illner sollte das Café einmal übernehmen. Hans war ein stadtbekannter junger
Mann. Er servierte im Café seiner Eltern und hatte immer einen flotten Spruch,
einen Reim für den Gast, der einen Tee, einen Tschai (Tee mit Rum) oder ein
Bier bestellt hatte. Er hatte sich bei Artilleriebeschuss in ein Haus geflüchtet
und an die Tür gelehnt. Der Granatsplitter ging durch die Tür in seinen Körper.
So ließ sich Geschichte an Geschichte reihen. Jeder Tote war ein Drama für die
Familie und für das Städtchen. Oberhalb vom Auto-Kneitschel in einem einzelnen
Haus, das heute noch steht, kam ein Offizier auf Heimaturlaub und starb an einer
Infektion. Bei der Beerdigung war ich auch dabei, als Ministrant unmittelbar
am Geschehen. Eine Gruppe Soldaten schoss am Grab Ehrensalut. Es war sehr laut,
so laut war kein schweres Gewitter! Täglich kann eine ähnlich schlechte Nachricht.
Vermisst in Russland war quasi eine Todesnachricht. Ende 1943 wurde auch mein
Vater geholt. Weil er nicht zum Schießen in den Steinbruch am Schnepfensteig
ging, wurde er, so erzählte man, vom Steidler-Zuckerbäcker denunziert und musste
mit 42 Jahren Soldat werden. Papa wurde Gebirgsjäger und kam in den Kaukasus.
Kleine Geschütze zerlegen, mit Mulis ins Hochgebirge transportieren und wieder
zusammenbauen war seine Arbeit. Papa war todunglücklich, das bewies jeder Brief
von ihm, der uns erreichte.
Das Leben in Freiheit wurde immer trister und trauriger. Es ging an der Front
in Russland nach Stalingrad nur noch zurück. Der zynische Schlachtruf bei der
Wehrmacht hieß: "Vorwärts Kameraden, wir müssen zurück!" In Freiheit
gab es nur noch alte Männer, Frauen und Kinder. Alles, was halbwegs schießen
konnte, wurde zur Wehrmacht eingezogen, schon 16jährige wurden geholt. Auch
die Versorgung der Menschen wurde immer schlechter. Das betraf zwar nicht unmittelbar
unsere Familie. Wir hatten "Beziehungen" zum Bäcker und zum Fleischer,
weil wir auch etwas hatten, was andere dringend brauchten. Aber für den Normalbürger
wurde ganz langsam Schmalhans Küchenmeister. Es fiel auf, dass die Menschen
in den Höfen und Gärten Kaninchen hielten, um das Wenige, was man auf die Fleischmarken
bekam, aufzubessern.
Wer mutig war, war über den Verlauf der Front, die immer näher kam, informiert.
Zu diesem Personenkreis gehörte meine Mutter. Die Leute sagten der "Engländer".
Der Sender hatte interessanter Weise ein Sendezeichen von Beethoven. DA DA DA
DAAAA ... Die Nazis drohten mit schwersten Strafen für das Abhören dieses Senders,
so wie die DDR es einige Jahre später praktizierte!
Ich kam einmal vom Spielen nach Hause und sah, dass Mama am Sofa stand und ihr
Ohr ganz nahe am Radio hatte. Sie nahm mich sofort beiseite und vermittelte
mir, dass sie sofort erschossen wird, wenn ich es jemanden verrate. Dieser Sender
berichtete alles, was deutsche Sender nicht brachten, nicht nur Kriegsberichte.
Wir wussten, dass wir am Ende des Krieges unsere Heimat verlassen müssen. Das
hatte Herr Benesch über die Jalta-Konferenz erreicht. Man wusste 1944 nur noch
nicht wie. Aber das konnte sich in unserem Städtchen kurz vor dem Ende des Krieges
niemand vorstellen, das war zu ungeheuerlich!
Unser Bergstädtchen Freiheit war bis zuletzt eine Oase des Friedens. Natürlich
sah man den Krieg in Form von Krüppeln. Verwundete sah man überall. Johannisbad
war quasi ein echtes Lazarettstädtchen. Alle Hotels waren kleine Lazarette.
Wir Freiheiter Schüler bekamen schon Ende 1943 unsere Schule abgenommen, denn
auch sie wurde Lazarett. Unsere neue Schule wurde die Schule in Marschendorf
I am Piette-Teich. Der Schulweg für die Freiheiter Kinder wurde dadurch länger.
Heute ist dieser Teich zugeschüttet, die Anlage verkommen.
Nachdem alle kriegsfähigen Männer einrücken mussten, kamen Fremdarbeiter in
das Riesengebirge. Meistens waren es Polen oder auch Ukrainer, denn von Parschnitz
bis nach Dunkeltal rauchten die Schlote Tag und Nacht. Auch viele Tschechen
waren in den Fabriken beschäftigt. Natürlich war längst die Kriegsproduktion
ins Riesengebirge verlegt, da gab es keine Luftangriffe, dort war alles sicher.
Eines Tages bekamen wir einen Brief von Papas Gebirgsjäger-Division. Mama war
sehr nervös und musste sich setzen. Es wurde mitgeteilt, dass Papa schwer verwundet
worden ist. Er befindet sich in einem Lazarett in Iglau (deutsche Sprachinsel).
Zwei Tage später war schon ein Brief aus dem Lazarett in Iglau da, es musste
Papa ein Bein abgenommen werden, ein Granatsplitter hatte sein Knie zerschmettert.
Mama machte das Geschäft zu und fuhr nach Iglau. Nach drei Tagen war Mama wieder
da und berichtete uns, dass unser Vater sehr unglücklich sei und mit seinem
Schicksal hadert. Alle Aufmunterungen halfen nichts. Papa war untröstlich!
Auch in unserer Werkstatt bekamen wir Zuwachs, einen Russen, wohl eher ein Ukrainer.
Er hieß Alexej. Er sollte Franz Efler zuarbeiten und es klappte ganz gut. Alexej
war ein sehr freundlicher Mensch. Er ging am abends aus dem Haus und kam morgens
wieder. Wo er übernachtete, war mir unbekannt. Auch Großvater in Brettgrund
hatte in seinem Sägewerk fünf gefangene Franzosen zugewiesen bekommen. Seine
beiden Söhne Alfred und Pep und ein Arbeiter namens Fuckner mussten in den Krieg.
Die fünf Franzosen waren frei. Oberhalb dem Sägewerk hatte Großvater zwei kleine
Häuser gekauft. Dorthin gingen die fünf jungen Männer in ihrer Freizeit und
kamen morgens wieder zur Arbeit. Die ganze kleine Industrielandschaft gibt es
heute nicht mehr. Ein Tscheche erzählte mir in Brettgrund, dass das alles schon
1946 abgerissen wurde, damit die Deutschen, sollten sie wiederkommen, keine
Bleibe mehr haben. Diese Gerüchte kursierten 1945/46 unter den Tschechen. Bei
einem späteren Besuch traf ich auf Großvaters Grund einen Förster mit deutschen
Wurzeln namens Braun. Er kontrollierte gelagertes Holz, dicke Stämme, und erzählte
mir, dass das ganze Holz nach Deutschland geht. "Hätten wir noch das Sägewerk,
könnten wir Bretter exportieren und mehr verdienen"! Ja, was sollte ich
dazu sagen? Ich empfand dicke Häme!
Aber zurück ins Jahr 1944. Gegen Ende 1944 war die russische Front schon in
Schlesien angekommen. Wahrscheinlich hat der Rübezahl schon den Geschützdonner
gehört. Das Weihnachtsfest 1944 war sehr traurig. Die Menschen wussten, dass
alles anders wird, nur noch nicht wie. Von Westen kamen die Amis, von Osten
die Russen. Alle hatten ein Ziel: Berlin. Aber unser Städtchen war immer noch
eine Oase der Stille. Außer dass in der Gegend von der Schneekoppe ein Flugzeug
abgestürzt ist, gab es keine Kriegsereignisse. Wir hörten einmal von Luftangriffen
auf Melnik. Ende Januar, es war ein extrem milder Winter, wachten wir früh auf,
es war zwischen 4 und 5 Uhr, weil alle Türen im Haus in den Angeln vibrierten.
Ich war mit meinen zehn Jahren der älteste Mann im Haus und fühlte mich stark
Ich rannte auf die Straße, um in der Morgendämmerung nach der Ursache für das
unheimliche Geräusch zu suchen. Über dem Wetterhäuschen und über der Lissak-Villa
war der Himmel feuerrot. Mama, die mit aus dem Haus gerannt war, sagte: "Jetzt
kommt der Krieg doch noch zu uns"! Unser Radio klärte später auf: Dresden
...! Wie wir erfuhren, wurde diese Elbflorenz genannte Stadt fast völlig ausradiert!
Sie war absolut nicht kriegswichtig und sie war mit Flüchtlingen vollgestopft.
Selbst die Elbwiesen waren belegt. Es war eine Riesenkatastrophe. Aber wir hatten
dieses Morden angefangen! Es waren englische Flugzeuge. Das war die Retourkutsche
auf unsere Gemeinheiten in England!
Auch in unserem Städtchen wurde der Krieg sichtbar. Ein Treck machte auf den
Flächen um die Turnhalle Station. Ich war schon immer ein wenig ein Streuner,
vor allem mit dem Fahrrad. Seit dem letzten Frühjahr durfte ich Papas altes
Fahrrad nutzen, sein neues war für mich tabu. Ich war also ganz schnell bei
der Turnhalle. Man sah viele Pferde, die ausgespannt waren und fraßen, die Kastenwägen
waren sehr groß und machten einen sehr stabilen Eindruck. Sie hatten alle Planen,
die zum Teil hochgeschlagen waren. Man konnte die Habe der Menschen sehen. Viele
neugierige Freiheiter waren da. Rotkreuzschwestern kümmerten sich und teilten
Tee aus. Die Menschen sagten, sie kämen aus Ostpreußen, aus dem Raum Königsberg.
Mir fiel der ganz andere Dialekt dieser Menschen auf, ich mußte die Ohren spitzen,
um etwas zu verstehen.
Es waren auch gleich Leute von ihnen in unserem Geschäft. Ein älterer Mann wollte
Schuhe für seine Kinder und für seine Frau, natürlich hatte er keinen Bezugsschein.
Mama verkaufte ihm was sie noch hatte und was er brauchte. Er war sehr froh,
dass er etwas ohne Bezugsschein bekam. Es war ja alles in Auflösung. Am anderen
Tag kam der Mann wieder und brachte, wohl aus Dankbarkeit, ein großes Stück
Rauchfleisch. Nach zwei Tagen, als mich die Neugier nach dem "Treck"
wieder zur Turnhalle trieb, war der Platz leer. Es lag auch kein Stroh mehr
herum. Er war aufgeräumt, auffällig sauber. Die Kolonne war übers Gebirge gekommen
und ist wohl in Richtung Prag weitergefahren. Ich denke heute noch manchmal
an dieses Ereignis. Was wird wohl aus diesen armen Menschen geworden sein?
Dass sich andere Zeiten anbahnten, merkte man auch in unserer Werkstatt. Bei
Franz Efler saßen am späten Nachmittag schon junge Burschen und ratschten. Sie
waren modisch gekleidet, trugen Schuhe mit breiten Rändern, hatten lange Haare,
teilweise geölt und wenn ich oder Mama in die Werkstatt kamen, verstummten die
Gespräche. Franz sagte zu mir: "No, Holdi (ich wurde Hardi gerufen) es
geht alles verrieber"! Eine Anspielung auf das Volkslied: "Es geht
alles vorüber, es geht alles vorbei!" Ich erkannte diese Anspielung nicht
...!
Nach Weihnachten 1944 hatten wohl auch die eifrigsten Nazis, im Städtchen begriffen,
es gab ja von dieser Sorte Menschen nicht viele, dass das Regime in Berlin am
Ende ist. Der Krieg war schon in Breslau angekommen. Die Leute sagten als Gruß
nicht mehr "Heil Hitler", sondern "Guten Tag" oder "Grüß
Gott", aber eher etwas leise, verhohlen, verschämt!
Durch meine kleinen Geschwister hatten wir Milchmarken. Ich war zufällig im
Laden vom Milchhallen-Richter neben der Apotheke, als eine Frau, die ich nicht
kannte, das Geschäft betrat und mit "Guten Tag" grüßte. Herr Richter,
ein sehr wohlgenährter Mann, etwa so alt wie mein Vater, der aber schon längst
im Krieg war, brüllte die Frau an mit den Worten: "In meinem Geschäft grüßt
man immer noch mit `Heil Hitler´, merken Sie sich das!" Ich und die
anderen Wartenden waren sehr erschrocken und allen hat es die Sprache verschlagen.
Herr Richter hatte ein Parteiabzeichen am Revers. Herr Richter hat es fertig
gebracht, dem Kriegsdienst aus dem Weg zu gehen.
Am 20. April hatte der Braunauer Geburtstag. Der wurde immer gefeiert, also
auch am 20. April 1945, obwohl das eigentlich nicht zu verstehen ist. Deutschland
lag in Trümmern oder es war besetzt, im Westen von Amis und Engländern, im Osten
von den Russen. Dem Freiheiter Lehrkörper gehörte ein Lehrer an, der ein echter
Scharfmacher war. Er war einer von den wenigen richtigen Scharfmachern der Nazis
und ein begnadeter Redner. Sein Haus war das erste nach der Firma "Schneider-Schlosser".
Die Hitler-Jugend, der ich so gerne angehört hätte aber nicht konnte, weil Mama
mir keine Uniform kaufte und ohne ging es nicht, zog mit klingendem Spiel durch
das Städtchen, vom Wetterhäuschen zur Turnhalle. Am Straßenrand, an dem natürlich
noch keine Autos parkten, war gelbes Pulver gestreut und mit dem Zug der Pimpfe
zog das rot-gelbe Feuer mit (bengalisches Feuer). Die großen Hitlerjungen waren
schon Soldaten oder schon tot und so waren die großen Trommeln mit den schwarzen
Flammen für die kleinen Pimpfe zu wuchtig und so mussten die kleinen Kerle beim
Marschschritt mit ihrem linken Bein die große Trommel immer nach vorne schieben,
damit sie nicht stolperten. Am Turnhallenplatz wurde mit vielen Befehlen und
Habacht und Stillgestanden im Fackelschein des Führers Geburtstag gedacht und
Lehrer Weiß hielt eine schneidige Rede, aus der hervorging, dass Deutschland
in den nächsten Tagen einen gewaltigen Gegenangriff starten wird und dass wir
noch 1945 den Krieg gewinnen werden. Was kam, das wissen wir. Ob es ihm am Platz
jemand geglaubt hat, ist nicht bekannt. In den nächsten Tagen wurde es in unserem
Städtchen ganz still. Über das Radio wurde bekannt, dass die Festung Breslau
gefallen war. Es stellte sich für die Freiheiter die Frage, flüchten wir oder
bleiben wir. Es gab ein Treffen am Ringplatz. Ein Mann sprach vom Balkon der
Firma Wachs-Stephan. In kleinen Gruppen standen die Freiheiter Bürger beisammen,
es waren ja nur Frauen und alte Männer. Wir Kinder hörten nur zu und waren etwas
neugierig, hatten aber keine Stimme. Wir verstanden das ganze Drama sowieso
nicht. Die Erwachsenen waren sich ganz schnell einig. Wir bleiben zu Hause im
Städtchen! Viele wussten mehr, so wie Mama, die ja immer den "Engländer"
abgehört hat. Wir wussten, dass die Deutschen fort müssen. Aber noch waren wir
da und was uns zunächst erwartete, lag im Nebel, das konnte sich auch keiner
so richtig vorstellen. Wir hatten in der Schule zwar etwas von der großen Völkerwanderung
erfahren, aber für uns war das unvorstellbar.
In den ersten Mai-Tagen kam ein Soldat
auf einem Motorrad und rief, ganz langsam weiterfahrend: "Straße frei
der Iwan kommt!" Es dauerte noch mehrere Stunden, bis die (im DDR-Jargon)
"Ruhmreiche Rote Armee" durch unser Städtchen fuhr. Als Zehnjähriger
war ich immer nahe am Geschehen und diesen Anblick werde ich nie vergessen,
den unsere "Besieger" boten. Der Eindruck war vernichtend! Ich erwartete
den "Feind" aus Richtung Schlesien, also von Grenzbauden her. Aber
er kam aus Richtung Trautenau. Die russischen Lkw waren klein, hatten eckige
Fahrerhäuschen wie unsere Laster in den zwanziger Jahren. Die Bereifung war
aus Hartgummi. An die Laster angehängt waren kleine Kanonen und die Soldaten
waren sehr betrunken, quasi im Siegestaumel, denn geschossen wurde ja nicht
mehr. Alle hatten Maschinenpistolen umhängen und sie waren sehr schmutzig und
abgerissen. Am Ringplatz standen außer uns neugierigen Kindern noch viele englische
Kriegsgefangene, die ihre Befreier enthusiastisch begrüßten. Sie klatschten
und schrien laut und die Russen sahen ganz schnell, dass alle Engländer Armbanduhren
hatten. Zwei Fahrzeuge blieben stehen und alle Engländer hatten plötzlich keine
Armbanduhren mehr! Danach schauten sie sehr befremdlich. Und wir Kinder waren
eigentlich recht schadenfroh. Unsere Feinde nehmen sich gegenseitig das Eigentum
weg toll!
In den nächsten Tagen holten die Russen alles, was eine Armee benötigt. Sie
wussten aber auch, wo es etwas gibt! Zum Beispiel bei unserem Nachbarn, dem
Dom-Bäcker. Er hatte im Hinterhaus viele Zentner Mehl. Weg Warts! Ebenso war
es bei unserer Fleischer-Verwandtschaft, Etrich. Auch dort wurde der Kühlraum
leergeräumt. Einer war dabei, der eine etwas bessere Uniform trug und einer,
der ein Gewehr im Anschlag hatte. Alle anderen waren ganz junge Soldaten und
die schleppten alles auf diese kleinen Laster vor dem Haus, die wir schon bei
ihrer Ankunft gesehen hatten. So ging es allen Fleischern in Freiheit. In unserem
kleinen Städtchen gab es fünf Fleischer, die alle gute Geschäfte machten. Das
hing wohl mit den Hotels in Johannisbad und mit den Bauden, insgesamt mit dem
Fremdenverkehr, zusammen. Langsam aber sicher klopfte auch in Freiheit die Not
an die Türen.
Plötzlich waren die Tschechen da!
Über Nacht! Die wenigsten von uns kannten die Sprache, meine Großmutter und
mein Vater ausgenommen. Aber Papa war im Lazarett. Jedes deutsche Geschäft,
auch das kleinste, mußte einen Tschechen haben, einen "Spravce", damit
es weiter existieren konnte. Mama versuchte, unseren Gesellen, den Franz Efler
zu überzeugen, dass er den "Spravce" für unser Geschäft macht. Franz
mußte erst überzeugt werden, denn er war sehr unsicher, schließlich ist es ihm
viele Jahre bei uns sehr gut gegangen. Es kamen täglich Tschechen in unser Geschäft
und wollten Besitz ergreifen. Mama konnte dann abwehren und sagen, dass wir
schon einen Kommissar haben. Wenn sich einer nicht abweisen ließ, schickten
wir ihn in die Werkstatt zu Franz.
Franz fuhr an einem Freitag nach Nachod, wohl um seine Frau zu fragen, ob er
den Herrn Kommissar machen soll. Am Abend erschreckten uns laute Schläge an
die Haustür. Mama und Omi hatten Angst! Ich eigentlich nicht, eher hatte mich
Neugier erfasst. Ich ging an die Haustür und öffnete. Es kamen einige Russen,
die Kalaschnikows umhängen hatten, herein, ihnen folgten mehrere Personen, wohl
Fremdarbeiter. Einer rief laut "Schuhe"! Sie rannten in unsere Küche
und fanden ganz schnell den Weg ins Geschäft, wo natürlich fast keine neuen
Schuhe in den leeren Regalen standen. Die wenigen Schuhe "beschlagnahmten"
diese Leute. Was viel peinlicher war, es standen viele Paare reparierte Schuhe
in den Regalen, die auf Abholung der Kunden warteten, Winterschuhe, die für
den nächsten Winter fit gemacht waren. Diese Schuhe nahmen die Kerle alle mit.
Peinlich! Als die Kunden ihre Schuhe bei uns abholen wollten, war die Enttäuschung
groß. Wir waren ausgeplündert!
Eines Tages kam ein Tscheche in unser
Geschäft und stellte sich vor. Sein Name war Strejcek. Er sagte zu Mama: "Sie
haben sicherlich ein privates Schuhlager. Sie dürfen sich für jedes Familienmitglied
ein Paar Schuhe behalten, die anderen Schuhe holen wir ab". Mama verneinte
den Besitz. Herr Strejcek ließ sich nicht beirren und sagte, er kommt in drei
Tagen wieder und macht eine Hausdurchsuchung. Wenn wir dann Schuhe finden, werden
Sie erschossen! Das war schon "ein dicker Hund"! Mama wurde sehr nervös,
was eigentlich ganz verständlich war.
In Johannisbad wurde bei einem Förster ein verstecktes Jagdgewehr gefunden.
Die ganze Familie wurde von Tschechen bis auf den Kurplatz vor den Kolonnaden
geprügelt. Sie bluteten am ganzen Körper und wurden dann von den Tschechen erschossen.
Der Förster, seine Frau, eine Tochter, etwa 15 Jahre alt und ein Sohn, etwa
14 Jahre alt. Im größten Lazarett, im Johannisbader Kurhaus, hat ein Augenzeuge
gesehen, wie tschechische "Partisanen" verwundete deutsche Soldaten
im Bett erschossen haben. Bei Johannisbad in einer Baude, haben einige Pimpfe
aus dem Ruhrgebiet, aus Wanne-Eickel, die auf einer Kinderlandverschickung wegen
der Luftangriffe waren, so hieß das damals, und den richtigen "Absprung",
sprich die Heimfahrt, nicht rechtzeitig geschafft hatten und Hitlerjugend-Uniformen
trugen, weil sie keine andere Kleidung hatten, einfach erschossen! Nach langwierigen
Bemühungen wurde, wohl in den achtziger Jahren, ein sehr bescheidener Gedenkstein
genehmigt irgendwo im Wald! Diese Geschichten waren der Hintergrund für
die schlimme Drohung von Herrn Strejcek, dass beim Finden von Schuhen Mama erschossen
wird!
Unser breites Schaufenster wurde nach Geschäftsschluss mit einem Rollo verschlossen.
Dieses Rollo, das abends mit lautem Getöse heruntergelassen wurde, mit einer
Holzstange, an deren Spitze ein Haken angebracht war, der in eine Schlaufe am
Rollo passte. Über dem Schaufenster war ein größerer Raum, in dem sich das wellblechartige
Rollo zusammenrollte, wenn es morgens hinaufgeschoben wurde. Dort oben war reichlich
Platz übrig, Stauraum für unsere privaten Schuhe! Vom Laden aus nicht sichtbar
und sehr gut verkleidet. Ein ganz ideales Versteck, dort wurde nichts vermutet.
Aber, weiß man´s?
Natürlich hatten wir ein privates
Schuhlager! Mama hatte viele Paar Schuhe für uns Kinder und für sich, die Omi
und auch für Papa reserviert. Keine Kriegs-, sondern Friedensware! Kinderschuhe
in verschiedenen Größen. Für Papa herrliche Herrenhalbschuhe, für sich schöne
Damenstiefel, für den Winter Hausschuhe, wir sagten "Potschen"! Welcher
Geschäftseigner hätte das nicht gemacht, für seine Familie zu sorgen! Mama nahm
die Drohung von Herrn Strejcek sehr ernst. Was man täglich von Übergriffen von
den "neuen Herren" in unserem Städtchen hörte, war zu Teil so grausam,
dass es einem heute noch die Gänsehaut auf den Rücken zieht. Ich wurde Heizer!
Mama sagte zu mir, daß wir die Schuhe verbrennen müssen. Ich mußte, damit es
der Franz durch das Werkstattfenster nicht sieht, immer zwei Paar Schuhe in
einer Tasche ins Waschhaus tragen und Stück für Stück von dieser herrlichen
Friedensware verbrennen. Solche Ereignisse brennen sich ein, sie bleiben in
Erinnerung! Herrliche Schuhe, schwarze, braune, feste, feine, welche für den
Winter, leichte für den Sommer, gingen durch den Schornstein!
Frantischek Efler kam zurück mit der Nachricht, daß er unser Geschäft übernehmen
wird, er will aber mit seiner Familie ins Haus ziehen. Wie sollte das gehen?
Eigentlich war das Haus voll. Aber, das war Bedingung! Mama erkannte, daß wir
zusammenrücken müssen. Nachdem wir unser Schlafzimmer im ersten Stock hatten,
räumten wir das Parterre und zogen in den ersten Stock. Omi hatte ja auch noch
eine kleine Wohnung. Der erste Stock gehörte uns und den Tippelts.
In unserem Haus war ja auch das Geschäft vom Uhrmacher und Juwelier Franz Tippelt.
Das hatten die Russen ganz schnell herausgefunden. Sie brachten die von den
Deutschen geklauten Uhren, größere Mengen, zu Herrn Tippelt. Er und sein Sohn
Norbert mussten von morgens bis abends Uhren reparieren. Die Russen zahlten
mit großen Scheinen. Ich war als neugieriger Zehnjähriger immer mit dabei! Unser
Haus, die Nr. 32, wurde von marodierenden Fremdarbeitern und auch von besitzergreifenden
Tschechen verschont, ja richtig gemieden. Natürlich mußte sich Frau Tippelt
und Tochter Inge am Boden verstecken, die Gefahr war für die zwei Frauen einfach
zu groß. Man hörte von den Besatzern ganz grausame und gemeine Geschichten.
Aber das war wohl überall so! Wir bekamen nun die Quittung dafür, was unsere
Soldaten in der halben Welt vorgemacht haben.
Ganz allmählich ließ die Dominanz der russischen Besatzer nach und die der Tschechen
nahm zu. Man hörte, daß sich viele deutsche Bürger das Leben genommen haben.
Der Mann am Friedhof, ich glaube er hieß Just, hatte viel Arbeit. Die Freiheiter
Bürger lebten in Angst. Die ersten "Freier" wurden nur mit einem Rucksack
aus ihren Häusern gejagt, so unsere Verwandten, die Pfeiffer-Tischlers, Etrich-Fleischers
mit Familie Fortelka und viele andere, die ja fast alle unsere Kunden waren.
So wie die Häuser frei wurden, waren sie auch schon von tschechischen Familien
besetzt. Unser Nachbar und Freund vom Papa, der Dom-Bäcker, wurde von seinem
Gesellen aus dem Haus gejagt! Er war die ganzen Kriegsjahre bei ihm und er wurde
wie ein Sohn gehalten. Der andere Nachbar, der Schier-Klempner bekam auch einen
sehr gemeinen Kommissar namens Barlay. Der schrie mit den Schiers so laut, daß
man ihn bei uns im Haus hören konnte. Nach einigen Tagen war die Familie Schier
schon fortgejagt. Sie hatten ein etwa drei Monate altes Baby, das die Angelegenheit
besonders erschwerte. Aber Herrn Barlay war das egal. Die Deutschen waren Dreck.
Das durfte man. Alle Deutschen hatten Angst.
In unserem großen Bücherschrank im großen Vorhaus im ersten Stock stand auch ein Buch, das heute noch, 2013, in der Lage ist, in Deutschland Emotionen zu wecken, weil es Leute gibt, die es wieder auflegen wollen: Adolf Hitlers "Mein Kampf". Das Buch zu besitzen war in diesen Tagen schon lebensgefährlich. Einige Tage nach der Schuhverbrennung im Waschhaus hatte Mama einen weiteren Auftrag der Vernichtung für mich. Die Verbrennung dieses Buches machte aber viel größere Probleme als die Schuhe. Das Buch, wahrscheinlich eine Schmuckausgabe und folglich gedruckt auf schweres Kunstdruckpapier, brannte ganz schlecht. Erst, als ich mit einigen Holzstückchen im Ofen richtig Hitze machte, konnte ich Blatt für Blatt vernichten, immer Angst, daß mich mit dem Buch jemand erwischt. Am Ende war ich richtig stolz auf mich, mit zehn Jahren schon ein solches "Werk" vollbracht zu haben. Eigentlich ein Werk der Vernichtung, aber Mama atmete richtig laut als ich ihr meldete: "Auftrag erfüllt"!
Es gab für die Deutschen Lebensmittelkarten.
Das waren wir ja schon gewöhnt. Aber auf diesen Karten, die die Tschechen uns
gaben, war allerdings nicht viel darauf. Kein Fleisch, keine Butter, Milch nur
für Kleinkinder, etwas Brot und Margarine. Diese Lebensmittelkarten bekamen
die Deutschen aber nur, wenn sie im Kino in der Turnhalle Propagandafilme besuchten.
Durch diese Filme erfuhren wir erst, auch wenn es teilweise übertriebene russische
Propaganda war, was wir in der Welt angerichtet haben. Am Ende der Vorführung
bekamen die Deutschen eine Art Bescheinigung, die man beim Abholen der Lebensmittelkarten
vorlegen mußte. Also, wer nicht ins Kino ging und sich Propaganda ansah, bekam
quasi nichts zu essen. Aber die Deutschen gingen alle, sie waren total eingeschüchtert!
Am schwersten wog, daß die Deutschen kein Salz bekamen. Das klingt im ersten
Moment nebensächlich, aber nach einer gewissen Zeit fehlt es dem Körper sehr.
Aber unsere Omi hatte Beziehungen. Sie hatte eine größere Menge Viehsalz beschafft!
Es war schmutzig, rötlich mit Sand und kleinen Steinchen durchsetzt. Es wurde
auf den Küchentisch geschüttet und von uns allen mit den Fingern "entdreckt"
nach der Devise, "das Gute ins Töpfchen, das Schlechte ins Näpfchen".
In unserem Stall standen noch zwei Ziegen. Die halfen uns in der Not. Heu war
noch viel am Boden über dem Stall, aber etwas Grünes wollten die Ziegen ja auch.
Mama holte mit der Sense und mit einem Tuch auf der "Rouper" (Schubkarre)
immer mal Gras auf unserer Wiese neben dem Friedhof. Es war die Wiese, die unserem
Haus am nächsten war. Es gab noch Wiesen, die weiter weg waren.